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"Wir leben in Zeiten der Unsicherheit" - Ecuador im Ausnahmezustand

Am vergangenen Mittwochabend (9. August 2023) wurde Fernando Villavicencio nach einer Wahlkampfveranstaltung in Quito ermordet. Festnahmen von mutmaßlichen Tätern führen auf das organisierte Verbrechen zurück. Die Hintergründe müssen noch geklärt werden.

 

Seit Monaten spitzt sich die Situation in Ecuador zu. Besonders die Küstenstädte sind von Wellen der Gewalt betroffen.

Am 27. Juli 2023 hatte Markus Linsler, Koordinator der Cooperación Fraterna mit der Erzdiözese München und Freising, dem Partnerschaftsbüro in Quito, über die aktuelle Situation im Land berichtet. Er zeichnete ein düsteres Bild von politischen Machenschaften und gegenseitigen Blockaden, Korruption und Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, ein mangelndes Bildungs- und Gesundheitssystem für alle, die es nicht aus eigener Tasche zahlen können, die Zunahme der Drogen und mit ihr der Gewalt, vor allem in der Hafenstadt Guayaquil, und eine daraus resultierende Migrationsbewegung in die USA auf höchstem Niveau.

 

Die Lage ist komplex und kompliziert. So setzten viele ihre Hoffnungen auf die vorgezogenen Neuwahlen am 20. August. Nun lähmt die Ermordnung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio das Land. Seitens der Regierung wurde ein 60-tägiger Ausnahmezustand verhängt. Guillermo Lasso will so die Durchführung der Wahlen versuchen zu gewährleisten.

 

In der Kommunikation mit unseren Partnern vor Ort hören wir:

"Wir leben in Zeiten der Unsicherheit. Es ist ein kollektives Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Angst. Es bleibt uns eigentlich nur zu beten und stetig in vielen kleinen Schritten vorwärts zu gehen. (Patricia Ordóñez, Leiterin des Kinderzentrums Guayaquil)

 

"Die Situation im Land ist sehr hart und es schmerzt das Herz, wir hoffen, dass wir den Kindern inmitten dieser Situation, die immer weiter wächst, eine gute Zukunft geben können und hoffen, dass es bessere Zeiten für das Land geben wird." (Teresita Moncada, Leiterin des Casa Hogar de Jesús)


Eine ehemalige Stipendiatin, Ingenieurin und Mutter von 3 Kindern schreibt: "Mir geht es gut, aber die Situation in Guayaquil ist schrecklich. Es ist besser, zu Hause zu bleiben. Wir erleben eine schwierige Zeit aufgrund des rasanten Anstiegs der Gewalt. Der ermordete Kandidat war eine Hoffnung für uns und unser Land."

 

Und Alberto Solórzano, der Leiter des Patenschaftsprogramms in Guayauil schildert die Situation folgendermaßen: "Ecuador ist in Trauer und wird weiterhin diese Tragödien erleben müssen, solange die Drogenmafia, Entführungen, Erpressung, Korruption und alle Übel, die wir in diesen Zeiten erleben, nicht aufhören. Wir alle leiden darunter, aber am stärksten leiden die ärmsten unter uns. Sie werden erpresst und sollen Geld zahlen, sogenannte "Vacunas" (Impfstoffe). Unsere Kinder und ihre Familien aus dem Stipendienprogramm, die in den Sektoren Monte Sinai, Sergio Toral, Isla Trinitaria, usw. leben, werden um Geld "gebeten" zu ihrem "Schutz". Es handelt sich um skrupellose Schutzgelderpressungen."

 

Dies untermauert auch Schwester Mónica, die das Kinder- und Jugendzentrum "Zum Guten Hirten" auf der Isla Trinitaria, einem Armenviertel vor Guayaquil, leitet. In einem Gespräch berichtet sie:

In Ecuador, besonders in Guayaquil und auf der Isla Trinitaria leben wir derzeit in einer sehr schwierigen sozialen Situation. Die lokale Regierung ist sehr schwach und wird den Drogenkartellen nicht herr. Doch wir hier im Jugendzentrum "Zum Guten Hirten" sind Gott sei Dank wohl auf, noch haben wir keine Probleme. Einen Straßenblock weiter haben sie kürzlich Dynamit (wir nennen es Bomben) in den Straßen deponiert. Damit demonstrieren sie revalisiernden Drogenbanden, dass es ihr Territorium ist. Die Drogenbanden kennen uns und wissen von unserer Abreit für die Menschen hier. Sie lassen uns bisher in Ruhe. Dennoch sind unsere Türen immer verriegelt. Hinein kommt man nur noch über die kleine Seitentür, die immer extra aufgeschlossen wird. Dennoch kommen die Mütter und schicken auch ihre Kinder weiterhin zu uns. Sie sagen, sie sind im Zentrum sicher. Sicherer als zu Hause.
Klar, manchmal können die Kinder und Jugendlichen oder die Mütter nicht kommen. Die Situation ist dann einfach zu gefährlich. Wie kürzlich, da habe ich einen Anruf einer Mutter erhalten, die sagte: "Wir können leider nicht kommen, sie haben eine Bombe/Dynamit direkt vor unser Haus gelegt. Wir verlassen das Haus nicht, weil wir nicht genau wissen, was noch vermient ist.“
Es gibt auch Verstrickungen zwischen den Banden und den Familien, die wir im Kinderzentrum betreuen. Einige Familienväter sitzen im Gefängnis. Fast alle Kinder haben entweder den Vater, einen Bruder, Onkel, oder Cousin verloren, der von den Bandenmitgliedern umgebracht worden ist. Meist geht es um Schutzgeld, das nicht gezahlt werden kann. Einige Familien sind aufs Land geflüchtet oder in andere Städte oder haben Ecuador ganz verlassen. Die Drogen bringen Gewalt und Tod.
Wir versuchen weiterzumachen, den Kindern einen sicheren Ort zu bieten, ein Frühstück, eine Mahlzeit, einen Platz zum Lernen, Spielen und Musik zu machen. Das wichtigste ist, dass sie nicht auf der Straße sind und Aufgaben und Perspektiven haben. Jetzt noch mehr als zuvor.